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Im Juni 2017 jährt sich der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zum ersten Mal. Aus diesem Grund gibt es heute auf unserem Blog den ersten Teil eines Gastbeitrags zum Brexit.
Brexit-the year after heißt der spannende Artikel von Dr. Benjamin Grau und Julia Harrasz über die möglichen Auswirkungen des Brexit auf den gewerblichen Rechtschutz. Die beiden Autoren arbeiten als Patent- und Markenanwälte bei Murgitroyd in München. Murgitroyd ist mit 13 Niederlassungen eine der größten Marken- und Patentanwaltskanzleien in Europa. Dr. Benjamin Grau und Julia Harrasz werden auch auf der PATINFO2017 über das Thema referieren. Die PATINFO2017 findet vom 31. Mai bis 02. Juni 2017 in Ilmenau statt. In diesem Jahr beschäftigt sich das 39. Kolloquium der Technischen Universität Ilmenau über Patentinformation und gewerblichen Rechtschutz mit dem Thema “Europäische Schutzrechtsysteme im Wandel”. Am 31. Mai finden ab dem frühen Nachmittag verschiedene Workshops statt. Am 01. und 02. Juni bietet die PATINFO2017 ein interessantes Vortrags- und Diskussionsprogramm. Auf der Homepage des Paton finden Sie das ausführliche Programm des Kolloquiums.
BREXIT – THE YEAR AFTER
von Dr. Benjamin Grau, Julia Harrasz, Murgitroyd
Einleitung
1960 wurde auf Initiative Großbritanniens die Europäische Freihandelszone (EFTA) als Gegenpol und Alternative – jedoch mit vergleichbaren Zielen – zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – dem Vorgänger der heutigen EU – gegründet. Nach verschiedenen individuell geschlossenen Freihandelsabkommen in den 1970er Jahren, dem Beitritt verschiedener EFTA-Mitgliedstaaten zur EWG, der mittlerweile entstandenen Europäischen Gemeinschaft (EG) und deren Nachfolger der Europäischen Union (EU) sowie gemäß der ständigen Bestrebungen einen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen, wurde der am 1. Januar 1994 in Kraft getretene Europäische Wirtschaftsraum (EWR) gegründet.
Grundgedanke des EWRs war es eine vertiefte Freihandelszone zum Abbau von Handelshindernissen basierend auf den Freiheiten des Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs zu schaffen. Dies erfolgte unter anderem durch die Schaffung gemeinsamer Regelungen innerhalb dieser Bereiche. Ein Konzept hierbei ist, das einschlägige von der EU beschlossene Sekundärrecht auch im EWR zu übernehmen, so dass eine Harmonisierung des Rechts erfolgt.
Die Harmonisierung umfasst natürlich auch die verschiedenen Rechtsgebiete des Gewerblichen Rechtschutzes: Zum Einen wurde nationales Recht über EU-Verordnungen, Richtlinien und Rechtsprechung entwickelt, zum Anderen wurden eigene, europäische Schutzrechte geschaffen. Auch steht ein Europäisches Patent samt Gerichtsbarkeit in den Startlöchern.
Vor gut einem Jahr, am 23. Juni 2016, stimmten 51,9 % der Briten für den sogenannten Brexit, also dafür, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt. Am 28. März 2017 hat die britische Premierministerin, Theresa May, den Austrittsantrag unterzeichnet, der dem EU-Ratspräsident, Donald Tusk, am 29. März übergeben wurde. Diese Übergabe löste offiziell Artikel 50 des EU-Vertrags aus, der den Austritt aus der Europäischen Union regelt. Entsprechend wurde eine zweijährige Frist für die Austrittsverhandlungen in Gang gesetzt. Diese Frist kann vom Europäischen Rat im Einvernehmen mit Großbritannien verlängert werden.
Während EU-Verordnungen direkt geltendes Recht in den Mitgliedstaaten sind, müssen europäische Richtlinien in nationales Recht umgewandelt werden; EU-Rechtsprechung gilt nur, solange die Zuständigkeit der EU-Gerichtsbarkeit besteht. Ohne eine einvernehmliche Verlängerung der Zweijahresfrist verlieren zum Ablauf der Frist alle EU-Verordnungen und die EU-Rechtsprechung in Großbritannien ihre Wirkung. In nationales Recht umgewandelte europäische Richtlinien bleiben indes in Kraft.
Gegenstand der Austrittsverhandlungen sind nun unter anderem etwa 21.000 Gesetze, Pensionen und Gehälter von rund 3.800 britischen EU-Bediensteten sowie offene Forderungen der EU in Höhe von 60 Milliarden Euro (Stand März 2017), wobei Forderungen der Briten gegen die EU bereits gegengerechnet wurden. Diese Summe variiert jedoch. Kürzlich wurde die Summe von 100 Milliarden Euro genannt (Stand Mai 2017). Neben erhoffter finanziellen Einsparungen ohne EU-Mitgliedschaft ist es erklärtes Ziel der „Brexiter“, sich vollständig von europäischem Recht zu „befreien“ und die Zuwanderung – inklusive der Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten – zu kontrollieren.
Die verschiedenen Aspekte des Gewerblichen Rechtschutz stellen somit nur einen sehr kleinen Teilbereich der Verhandlungsmasse dar und liegen wohl nicht im Fokus der Verhandlungen, obwohl diese Aspekte im wirtschaftlichen Bereich immer schon wichtig waren und im Zuge der Globalisierung noch wichtiger geworden sind.
Grundsätzlich zeigt sich bei den gewerblichen Schutzrechten ein Zusammenspiel aus rein nationalen Aspekten, rein europäischen Aspekten und sowohl national als auch europäisch beeinflussten Aspekten. So gibt es die verschiedenen nationalen Schutzrechte, parallel und ergänzend dazu Unions-Rechte, und Bereiche in denen EU-Recht und nationales britisches Rechts zusammenkommen.
Im Folgenden sollen die Auswirkungen des Brexit auf verschiedene Bereiche des Gewerblichen Rechtschutzes kurz behandelt werden.
Europäisches Bündelpatent
Da Großbritannien EPÜ-Vertragsstaat ist, ergeben sich bei dem Austritt Großbritanniens aus der EU bis zur Erteilung eines Europäischen Bündelpatents, wie es derzeit in Kraft ist, keine Änderungen. Gleichwohl sollte nicht vergessen werden, dass auch das EPÜ, obwohl es ein internationaler Vertrag ist, von Europäischem Recht beeinflusst ist (vgl. z.B. die Umsetzung der Biotechnologierichtlinie (EPA Amtsblatt 1999, 101); inwieweit dies für Großbritannien mit der Lossagung von EU-Recht vereinbar ist, bleibt abzuwarten.
Nach Erteilung eines klassischen Europäischen Bündelpatents ergeben sich durch den Wegfall von EU-Recht (beispielsweise der Brüssel-I/Ia-Verordnung) jedoch offenkundig Beeinträchtigungen, zum Beispiel bei der Durchsetzung eines gewerblichen Schutzrechtes. Die Brüssel-I/Ia-VO regelt die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen für Mitgliedstaaten der Europäischen Union. EU-ausländische Urteile werden gemäß der Brüssel-I/Ia-Verordnung innerhalb der EU automatisch anerkannt.
Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung (EPeW)/Einheitspatentgericht (EPG)
Bereits seit 1975 wird um die Einführung eines Gemeinschaftspatents gerungen. In den letzten Jahren wurde unter politischem Druck an der Umsetzung eines Patents mit einheitlicher Wirkung (EPeW) und einem Einheitspatentgericht (EPG) gearbeitet. Über die Jahrzehnte waren sich entgegenstehende nationale Interessen eines der grundsätzlichen Probleme bei der Umsetzung. Nachdem die nationalen Interessen hinsichtlich des EPeWs unter politischem Druck überwunden schienen, ist nun aber die Durchsetzung nationaler Interessen der vordringliche Grund für die Austrittsbestrebungen Großbritanniens. Mit der Brexit-Entscheidung ist somit die Umsetzung dieser Vorhaben wieder ins Stocken geraten.
Hinsichtlich der Interessenslage Großbritanniens beim Thema gewerbliche Schutzrechte führt dies insbesondere beim EPeW und EPG zu einem größeren Spannungsfeld. Hier stehen sich die völlige Befreiung vom EU-Recht und das Supremat und die Einheitlichkeit des EU-Rechts als Maxime der EU diametral entgegen.
Die Teilnahme beim EPeW und dem EPG ist für Großbritanniens Wirtschaft von großem Interesse, sodass ein Spagat zwischen der der Bevölkerung versprochenen völligen Lossagung von dem „Regime der EU“ und dem Wunsch der Wirtschaft am EPeW und EPG teilzunehmen versucht wird.
Deshalb wird seitens der britischen Regierung immer wieder darauf verwiesen, dass es sich bei dem Übereinkommen zum einheitlichen Patentgericht (EPGÜ) um einen internationalen Vertrag handelt, und somit eine Teilnahme Großbritanniens an diesem Vertrag mit dem Austritt aus der EU nicht in Widerspruch stehe.
Hierbei wird jedoch außer Acht gelassen, dass sich das EPG im EPeW begründet – welches wiederum auf EU-Verordnungen basiert. Ferner ist das EPG gemäß Art. 20, 21 EPGÜ – wie alle nationalen Gerichte – der Anwendung und einheitlichen Auslegung europäischen Rechts verpflichtet und kann den EUGH mit Fragen zur Gültigkeit oder zur Auslegung europäischen Rechts anrufen (Art. 38 Satzung des EPG).
Daneben ist die Teilnahme von nicht-EU-Mitgliedstaaten beim EPG im Licht des EUGH-Gutachtens (1/09) über die Vereinbarkeit des Übereinkommens mit EU-Recht zumindest strittig. Ob ein Mitgliedsstatus Großbritanniens zum Zeitpunkt der Ratifizierung des EPGÜs ausreicht, um eine Teilnahme über den Austritt aus der EU hinaus zu ermöglichen, ist fraglich. Grundvoraussetzung hierfür wäre jedoch die Gewährleistung des Supremats und der Einheitlichkeit des Unionsrechts (vgl. [78] bis [85] Gutachten 1/09; Art. 20 EPGÜ).
Relevante Rechtsgrundlagen sind hierbei:
- Europäische Verordnungen (1257/2012 und 1260/2012)
- Übereinkommen zum Einheitspatentgericht (EPGÜ)
- Gutachten 1/09 des Europäischen Gerichtshofs
Grundsätzliches Problem für das Inkrafttreten des neuen Patentsystems ist, dass Großbritannien (neben Deutschland) gemäß Art. 89 EPGÜ das Übereinkommen noch ratifizieren muss, damit dieses Inkrafttreten kann. Abgestellt wird hierbei auf den Status Großbritanniens zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des EPGÜ; formal betrachtet müsste Großbritannien das Übereinkommen sogar nach dem Austritt aus der EU noch ratifizieren, damit dieses in Kraft treten kann.
Nach dem letzten Stand der Planung sollte – trotz der Brexit-Entscheidung im letzten Jahr – das EPGÜ im Dezember 2017 Inkrafttreten. Dieser Plan ist jedoch, spätestens durch die Entscheidung des britischen Unterhaus für den 8. Juni 2017 vorgezogenen Neuwahlen anzusetzen, nicht haltbar.
Grundsätzlich erscheinen folgende Szenarien für ein Inkrafttreten des EPGÜ möglich:
- Ratifizierung des EPGÜ durch Großbritannien vor dem Austritt aus der EU
Diese Möglichkeit wurde in den Medien bislang als die wahrscheinlichste propagiert. Dadurch könnte das Paket EPeW/EPGÜ in Kraft treten und Großbritannien könnte, zumindest bis zum Austritt, daran partizipieren; evtl. könnte dann eine Lösung für den Fortbestand der Mitgliedschaft gefunden werden.
Grundsätzlich erscheint eine Änderung des EPGÜs nach seinem Inkrafttreten über Art. 87 EPGÜ einfacher. Hinsichtlich der nötigen Änderungen des EPGÜ sei auf das Gutachten von Richard Gordon QC und Tom Pascoe “The effect of ‘Brexit’ on the unitary patent regulation and the unified patent court agreement” verwiesen. Dennoch wäre hierbei ein neues Gutachten des EUGH hinsichtlich der Vereinbarkeit der erforderlichen Änderungen mit EU-Recht hilfreich.
Problematisch bei dieser Lösung ist, dass sich Großbritannien dabei über einen internationalen Vertrag – das EPGÜ – auch über einen Austritt aus der EU hinaus an europäisches Recht binden würde. Des Weiteren müsste die Ratifikation durch Großbritannien im Vertrauen darauf erfolgen, dass später entsprechende Änderungen vorgenommen werden, da seitens der EU vor Abschluss der Austrittsverhandlungen keine Verhandlungen über eine zukünftige Zusammenarbeit erfolgen sollen.
Eine Ratifikation des Übereinkommens, um für die Restdauer der Mitgliedschaft am neuen Patentsystem partizipieren zu können, erscheint im Lichte der Bindung an EU-Recht und der geringen Laufzeit aufgrund der Verzögerung durch die Neuwahlen unwahrscheinlich.
- Rückstellen der Ratifikation durch Großbritannien und/oder Deutschland, bis eine Lösung für die Teilnahme Großbritanniens am EPeW/EPG gefunden wurde
Diese Option würde eine erhebliche Verzögerung des Inkrafttretens des EPeW/EPGs mit sich bringen, da entsprechende Änderungen des EPGÜ – auch wenn sie Teil der Austrittsverhandlungen sind, unter Umständen einen neuen Ratifizierungsprozess erfordern könnten. Gleichzeitig ist fraglich, ob ein Supremat des EU-Rechts – evtl. beschränkt auf dieses Rechtsgebiet – für Großbritannien akzeptabel ist.
Nicht zuletzt und in Anbetracht der Tatsache, dass die Neuordnung des EPGs, insbesondere hinsichtlich eines Sitzes einer Zweigstelle der Zentralkammer, der derzeit im EPGÜ in London festgelegt ist, beträchtliche Kosten und neue politische Diskussionen verursachen würde, könnte eine größere Verzögerung auch zum Scheitern des „Einheitspatents“ führen.
- Großbritannien tritt als Vertragspartei des EPGÜ zurück
Aufgrund der Formulierung des EPGÜs ist eine Ratifikation durch Großbritannien für das Inkrafttreten zwingend erforderlich (Art. 89 EPGÜ). Tritt Großbritannien als Vertragspartei zurück (gemäß Art. 34, 54 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge), könnten die verbleibenden Vertragsparteien fortfahren (vgl. „Was bedeutet die “Brexit”-Abstimmung für den gewerblichen Rechtsschutz in Europa?“, Hüttermann, enthalten in: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 107(2016), 8/9, S. 353-358).
Entsprechend würden entweder Italien oder die Niederlande als zwingende Ratifikationspartei nachrücken.
- Änderung des EPGÜs um ohne Großbritannien zu beginnen
Die übrigen Vertragsparteien des EPGÜs könnten das EPGÜ nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge ändern, um ohne die Ratifikation und ohne den Rücktritt Großbritanniens als Vertragspartei fortfahren zu können.
Neben den nötigen Änderungen des Art. 89 EPGÜ hinsichtlich des Ratifizierungserfordernisses Großbritanniens könnte auch Art. 7 EPGÜ bezüglich des Sitzes der Zentralkammer in London geändert werden. Um eine erneute Diskussion in diesem Zusammenhang zu vermeiden, könnten dem Sitz in London auch einfach sämtliche Zuständigkeiten (definiert im Anhang des EPGÜ) entzogen werden.
- Exit from Brexit
Zwar hat der Ex-Premierminister Tony Blair Ende April angekündigt, nun für einen Verbleib Großbritanniens in der EU kämpfen zu wollen, und auch die Parlamentswahlen können – wenngleich unwahrscheinlich – zu einer Änderung der Gesinnung im Parlament führen, doch ist die Möglichkeit der Rücknahme eines Austrittsantrags wenigstens strittig (vgl. Deutscher Bundestag, Ausarbeitung des Fachbereichs Europa (PE 6) 3000-112/16 vom 28. Juli 2016).
Wesentlich für ein Inkrafttreten des EPGÜs und damit den Beginn des Europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung erscheint eine zeitnahe Lösung. Schon allein aufgrund der laufenden Kosten – große Teile der nötigen Infrastruktur existieren bereits – wäre eine größere Verzögerung im Lichte der allgemein angespannten Haushaltslage wohl schwer zu vermitteln und zu rechtfertigen.
Gleiches gilt in Anbetracht der bereits erfolgten Investitionen für eine Beendigung des Projekts.